·ainlif·

Februar: Hier in diesem Waldstück mit dem Namen Zwitschereck ist das Projekt ·ainlif· in 2009 gestartet. Es ist jener Wald, der zwanzig Jahre Bühne für das Projekt ·Über Dauer hinweg· von 1988 bis 2008 war. Das Bild zeigt in der unteren Hälfte die kumulierten zwanzig Jahre des Vorgängerprojekts, in der oberen Hälfte sind nun weitere elf Jahre aus dem Projekt ·ainlif· hinzugekommen.

März: Oben auf der Buche – hier im Land der Angeln – nachdem die eigene Muskelkraft und die Seiltechnik mich auf 13 Meter Höhe gebracht hat, ist der Blick auf den zauberhaften Tümpel im Wäldchen gerichtet. Die Lindenblattform ist in der blattlosen Zeit am deut­lichsten zu erkennen.

April: Alte Seezeichen gaben den Seefahrern auf ihrer Fahrt in die Elbmündung Orientierung. Heute stehen sie scheinbar nutzlos herum. Die Ostbake zu Neuwerk wurde, nachdem sie von einem Sturm 2007 umgeworfen wurde, wieder auf­gebaut. Die Nordbake stürzte 2017 unwiederbringlich um.

Mai: Hier hat in Hamburg niemand gewohnt, hier wurde gearbeitet; in den Läden im Erd­geschoss wurde noch eine Zeitlang verkauft. In den oberen Stockwerken erwartet ein Hotel Besucher. Was wird die Zukunft dieser Gegend bringen, wie werden die Menschen hier leben und arbeiten können? Oder werden sie doch nur mit dem Auto vorbeifahren?

Juni: Wellige Hügel- und Kulturlandschaft in der Holsteinischen Schweiz.

Juli: Der Ort: ein Bahnhof. Jener Ort, der uns ziehen oder ankommen lässt, der uns trennt und verbindet. Wer sich auf Reisen begibt, wird zu einem Fremden. Jener Ort, der uns gewiss macht, dass wir mit unserem Selbst alleine sind und auskommen müssen; alles wird flüchtig.

August: Im Zentrum von Barmen, im einst pompösen 50er-Jahre-Kino Licht­burg, war der Proberaum des weltberühmten Wuppertaler Tanztheaters. Nur ein paar hundert Meter entfernt steht das Opernhaus. Hier in Wuppertal hat Pina Bausch, die Schöpferin des neuen Genres Tanztheater, schon als Kind getanzt. Haltestelle Schwebebahn: »Alter Markt«; die erste Aufnahme erfolgte unbeabsichtigt im Todesjahr von Pina Bausch.

September: Rothenburgsort, Hamburg-Mitte: Hier liegt die Elbinsel Kaltehofe, eingebettet zwischen Billwerder Bucht, Norderelbe im Westen und Holzhafen im Osten. Die ehemalige Elbwasserfiltrierungsanlage der Hamburger Wasser­werke, die 1990 außer Betrieb genommen wurde, befindet sich auf Kaltehofe. Die kleinen Brunnenhäuser stehen anmutig, leicht trutzig am Rand der großen, von Vögeln genutzten und nun ihres ursprünglichen Zwecks befreiten Wasserbecken. Durch extensive Pflegemaßnahmen entwickelt sich das Gebiet naturnah; der Blick über die Insel hinweg zeigt auch eine reale Seite der Elbinsel: Industrie.

Oktober: Ein Steinbruch zeigt erkaltete Gesteinsschichten, hauchdünn. Es ist die Kruste, der Mantel unseres Planeten Erde; jener Erdmantel, der das Innere aus glühend heißem Magma zusammenhält. Zumeist ist die Gesteinsschicht, der Boden, für uns im Raum Stehende die wahrnehmbare Oberfläche. Und das Produkt eines Steinbruchs ist allgegenwärtig, schützt unseren Lebensraum, ist das eigentliche Archiv der Erdgeschichte. Boden fördert das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen, versorgt uns mit den elementaren Rohstoffen und trägt uns mit jedem Schritt, den wir tun.
Als Raum-Zeit-Struktur ist der Boden ein vierdimensionales System (D. Schroeder: Bodenkunde in Stichworten, 1992, S. 9). Stein kann faszinierend, schön, wertvoll, unentbehrlich, unerschöpflich und nützlich sein.
Die aktive Phase des Steinbruchs hier im Weserbergland soll zu Ende gehen. Große Teile der Bruchflächen sind bereits renaturiert. Dann, so der Plan, wird wieder Boden die Gesteinsschicht bedecken. Die nachindustrielle Zukunft des Steinbruchs hat begonnen und damit die Transformation des Ortes vom industriell zum anthropogen geformten Naturraum.

November: Es geht bergan auf der alten schmalen Straße; es ist die ehe­malige Bundesstraße 22. Begegnen sich zwei Fahrzeuge, muss eines davon auf den Randstreifen ausweichen. Die neu ausgebaute Straße läuft weiter links davon, breit und optimal ausgebaut. Die alte Bundesstraße mahnte so zur Vorsicht, die Neue tut das nicht. Davon zeugen die Kreuze der Erinnerung am Straßenrand. Angekommen zeigt sich einem das Ziel an den dampfenden Kompostbergen und dem nicht unangenehmen Geruch. Gartenbesitzer bringen hierhin, was sie selbst an Gartenabfällen nicht verwerten können und nehmen mit, was sie für ihren blühenden Garten benötigen: Humus.

Dezember: Ein Museum als Institution, welche Zeit erstarren lässt. Das Museum am Kiekeberg südlich der Elbe ist solch ein Ort. Trotz der rapiden Entwicklung einer in Sichtweite [kieken] befindlichen Großstadt namens Hamburg wird hier die Zeit angehalten. Hier wird aufgebaut, was einst woanders seinen Platz hatte. Die Menschen kommen in ihrer Freizeit hierher, als sei es ein Ort ihrer Sehnsucht; nicht nur nach vergangener Zeit, vielleicht auch nach Geborgen­heit. Das Ensemble der hier zusammengestellten, ihres Zwecks beraubten Wohn­- und Arbeitsstätten stillt für einen Moment diese Sehnsucht. Ist es doch so anders als das Einerlei von Stahl, Beton und Glas aus der Investorenarchitektur einer Metropole der Gegenwart.